Samstag, 21. Dezember 2013

So etwas wie Alltag

Guten Abend!
Pünktlich zu Weihnachten schicke ich euch mal wieder ein Lebenszeichen von mir. Nun bin ich schon seit anderthalb Monaten hier oben und so langsam ist der Alltag eingekehrt. In vielen Punkten ein ganz anderer als in Deutschland, in manchen jedoch gar nicht so verschieden.
Um euch einen besseren Eindruck zu verschaffen, versuche ich nun, einen typischen Tagesablauf zu beschreiben.
Ich wache in der Regel so um halb sieben von Musik, ersten Sonnenstrahlen oder schreienden Ziegen und Hähnen auf. Dann habe ich Zeit ganz entspannt aufzustehen, Musik zu hören, Sport zu machen und zu frühstücken, bevor ich mich im Laufe des Vormittags auf den Weg zur Schule mache. Das sind so circa vier Kilometer entlang der hügeligen roten Hauptstraße, von der man theoretisch in ein fabelhaftes Panorama ringsum blickt. Leider wird mit dem Einsetzen der Trockenzeit mehr und mehr der Harmattan spürbar, ein Sandsturm aus Nordafrika, der die Luft mit Staub spickt, mitunter so stark, dass die umliegenden Berge von ihr verschluckt werden und die Sonne nachmittags nur noch als mattgoldener Taler hinter einer diesigen Wand durchschimmert.
Auch die Landschaft wird von der Hitze nach und nach ausgetrocknet und Buschbrände verwandeln große Gebiete in kurzer Zeit in kraterartige Aschefelder.
Beim Fahrradfahren jedenfalls eine große Freude, aber wenn man weiß, dass man vor jedem herannahenden Fahrzeug rechtzeitig die Luft anhalten, die Augen schließen und sich vorher noch die nachfolgenden Schlaglöcher einprägen muss, ist es halb so wild.
In der Schule steht dann englisch, BDT oder Ghanaian Language auf dem Plan. Der Unterricht erfolgt oft relativ spontan, spielerisch oder nach Lehrplan.
Nach der Schule machen wir meist ein paar Besorgungen im Ortskern, wo man doch relativ viel bekommt, von Elektronik-, Kosmetik- bis Haushaltswaren.
Inzwischen habe ich jeweils meine eigene Gemüse-, Eier-, Apfel- und Süßigkeitenfrau, sowie Schneiderin. So zieht sich ein Einkauf dann auch entsprechend hin damit, von einer Frau zur anderen zu fahren und überall ein bisschen zu ratschen. Die Vorstellung, einfach in einen Laden zu gehen und wortlos einzukaufen, ohne sich zu begrüßen und nach dem Befinden zu fragen, kommt mir inzwischen völlig abwegig und unhöflich vor.
Nach so einer Plauderkauftour geht es dann nachhause, wo es so um vier Mittagessen und Abendessen in einem gibt. Und dann trudelt der Tag so langsam aus. Ich spiele noch ein bisschen mit den Nachbarskindern, betrachte um 17:20 den Sonnenuntergang und gehe nach Dunkelheiteinbruch in mein mittlerweile sehr gemütliches Zimmer, wo ich noch lese, male oder schreibe, bevor ich früh schlafen gehe.
An den Wochenenden machen Magda und ich oft einen gemütlichen Kochtag, wo wir versuchen draußen über dem Feuer aufwändige deutsche Gerichte auf ghanaische Art zuzubereiten.
Außerdem steht dann normalerweise der Großputz unserer im Laufe der Woche zugemüllten Küche, und Wäsche waschen auf dem Tagesplan. Kleinere Mengen waschen wir bei uns im Eimer, mit größeren müssen wir uns zu einem nahe gelegenen Flusslauf begeben, wo wir dann quasi mitten im Dschungel sitzen.
Waschen und duschen sind hier aber wirklich frustrierende Angelegenheiten, da schrubbt man stundenlang, um nach zwei Sekunden wieder mit Staub überzogen zu sein.
Dementsprechend hat sich unser Duschrhytmus hier ziemlich verlangsamt und ich zelebriere es mittlerweile regelrecht, mich kurzzeitig mal so richtig sauber zu fühlen. Außerdem führt mir der Lebensstil hier wirklich mal vor Augen, was für Wassermassen ich zuhause verschwendet habe. Hier reicht mir ein großer Eimer aus, um Körper und Haare zu waschen, mich zu rasieren, und dann ist meist sogar noch Wasser übrig. Versucht es doch einfach mal selbst zuhause!
Soweit also zu meiner durchschnittlichen Woche. Nun möchte ich aber noch ein bisschen von den Besonderheiten berichten, die der Alltag für mich bereit hält.
So habe ich beispielsweise tatsächlich die Steckbriefe mit den Mädels fertig bekommen, die von der deutschen Klasse wohl auch schon freudig entgegen genommen wurden. Die Resultate können sich wirklich sehen lassen und jedes Mädchen hat sich stolz mit dem Eigenen fotografieren lassen.
Des Weiteren war vor Kurzem die offizielle Opening Ceremony der Schule, wo ich die Mädchen mit Gitarre begleiten durfte. Das Programm der Kinder fand ich sehr gelungen, sie waren auch ganz aufgedreht, haben beeindruckend gut gesungen und einen wirklich lustigen Sketch aufgeführt, der jedoch einen sehr ernsten Kern hatte. Einen Appell an die Eltern, ihre Kinder zur Schule zu schicken, um zu guten Menschen zu werden. Eine Thematik, die ich später noch ausführen werde.
Ansonsten war das Programm leider relativ langatmig mit vielen schwer verständlichen Reden.
Seit dem 12.12. sind nun Weihnachtsferien und Magda und ich haben ein kleines Ferienprogramm im Freizeitzentrum angeboten. Von Dienstag bis Donnerstag sollten vormittags parallel Fußball und Basteln, nachmittags kreatives Schreiben stattfinden. Am Dienstag hat das auch sehr gut geklappt. Ich habe mit den Mädchen Weihnachtsdeko gebastelt und es hat sehr Spaß gemacht, mal ganz ungezwungen mit ihnen in einer Runde zu sitzen. Nachmittags haben wir uns dann gegenseitig deutsche und ghanaische Tänze beigebracht und einen Film zur Einstimmung geguckt.
Leider haben sich dann wohl ein paar Eltern beschwert, dass die Kinder so lange weg gewesen seien, sodass an den anderen beiden Tagen niemand mehr zum Basteln gekommen ist. Immerhin waren ein paar zum Schreiben da, was sich jedoch gar nicht so einfach gestaltet hat, weil es wohl noch wesentlich besser durchdachte Methoden braucht, um in den Kindern zu wecken, was sonst immer eher unterbunden wird - Kreativität.
Die Kinder werden in der Schule in erster Linie zum Abschreiben und Auswendiglernen getrimmt, weswegen beispielsweise jedes Kindergartenkind das Alphabet auswendig, aber Keines neue Wörter identifizieren kann. Es gibt für alles eine vorgeschriebene Form, Spielen wird als Faulheit angesehen.
Dementsprechend ist die Aufgabe, etwas Eigenes und Freies zum reinen Selbstzweck zu schaffen für die Meisten etwas ganz Neues. Aber der anfänglichen Verwunderung weicht meist schnell Neugier und Stolz auf das Ergebnis.
So habe ich zum Beispiel neulich mit Happy von den Mojas (unsere Nachbarsfamilie) Salzteig gemacht und war erstaunt, wie schnell sie eigene kleine Figuren geformt hat.
Die Schreib-AG wollen wir auf jeden Fall im neuen Jahr regelmäßig fortführen, gerne in einer kleineren familiären Runde, in der wirklich eine Vertrauensbasis und ein konzentriertes Arbeitsklima geschaffen werden können.
Generell gestaltet sich die Durchführung von Nachmittagsaktivitäten wesentlich schwieriger als gedacht. Die meisten Eltern haben scheinbar etwas dagegen, ihren Kindern so viel Freiheit einzuräumen, da sie im Haushalt oder bei der Arbeit benötigt werden. So kommt es beispielsweise oft vor, dass ich nachmittags im Ort eine Wasserverkäuferin als eine meiner Schülerinnen wieder erkenne.
Das ist eine Sache, die mich wirklich ein wenig hilflos und traurig macht. Zum Einen zu sehen, wie circa Siebenjährige Lasten auf dem Kopf verkaufen, die sie nicht einmal selbst herunter bugsieren können. Zum Anderen, dass soviel Potenzial in den Kindern vergeudet wird, und es vor allem keinen Ausweg gibt.
Beachtlich finde ich, wie es die Kinder reifen lässt und zu verantwortungsbewussten jungen Menschen macht. Und ich beginne mich auf eine andere Weise mit Erziehung zu beschäftigen und frage mich, ob das deutsche "in Watte packen" und Verschlingen von Pädagogikratgebern unbedingt so förderlich ist.
Neulich habe ich mich mit Stephen, einem fünfzehnjähriger Nachbarsjungen, länger unterhalten und er erzählte mir, er vermisse Zeit für sich und zum Spielen, und wünschte, nicht immer nach der Schule auf der Farm arbeiten und Wasser holen zu müssen. Aber er wisse auch, das seine Familie ihn brauche. Deswegen möchte er Arzt werden, um sie eines Tages gut unterstützen zu können.
Ich habe oft das Gefühl, dass hier in der Erziehung vielleicht weniger auf Individualität und Freiheit Wert gelegt wird, dafür jedoch auf Gemeinschaftsgeist, Hilfsbereitschaft, Ehre.
So haben unsere Nachbarn einmal unser Messer zerbrochen, aber darauf bestanden, uns ein Neues zu besorgen, obwohl sie sich nicht einmal neue Zahnpasta kaufen können. Und in der Stadt würde dir jemand, der kein passendes Wechselgeld hat, immer eher zu viel herauszugeben, als zu wenig. Das Fahrrad kann man überall stehen lassen, ohne es abzuschließen. Ich habe hier mittlerweile ein Grundvertrauen in die Menschen entwickelt, das ich zuhause nie hatte.
Und ich schließe sie in mein Herz, die temperamentvollen, begeisterungsfähigen und selbstbewussten Kinder, die humorvollen und herzlichen Gesichter unterwegs.
Und ich hoffe darauf, dass wir doch noch einen Weg finden, noch mehr außerschulisch anzubieten, sei es auch nur für wenige Kinder.
Im nächsten Jahr werden wir wahrscheinlich auch nur noch für BDT benötigt und es ist gut möglich, dass wir noch an einer anderen Schule untergebracht werden. Außerdem würde ich gerne ein Teilzeitpraktikum im lokalen Krankenhaus machen, was von der Projektleitung aus zumindest möglich ist. Das wäre für mich natürlich toll. Zum Einen komme ich so noch mehr mit lokalen Leuten in Kontakt, zum Anderen ist es sicherlich eine interessante Erfahrung, vor allem da ich immer mehr überlege, beruflich in die medizinische Richtung zu gehen.
Ich nehme mich auch hier ab und zu kranken oder leicht verletzten Kindern an, und habe ihnen auch ausdrücklich gesagt, dass sie mit kleinen Wunden immer zu mir kommen sollen, bevor es sich entzündet, da Viele nicht das nötige Geld haben, sich selbst zu versorgen.
Besonders für die Mojas empfinde ich mittlerweile wirklich Zuneigung, Verantwortung und Zugehörigkeit. Zum Einen verbringen wir viel Zeit gemeinsam, zum Anderen hat sich eine Art beständiges Geben und Nehmen entwickelt. Mal helfen wir ihnen mit den Hausaufgaben oder zahlen ihr Schulgeld, dann bringen sie uns Feuer oder füllen unser Wasser auf, dann leihen wir ihnen Räder oder kochen gegenseitig füreinander.
Jetzt in der Weihnachtszeit haben wir ein paar deutsche Traditionen an sie weitergegeben, was ihnen sehr gut gefallen hat. So war der Nikolaus dieses Jahr auch in Ghana und hat Schuhe und Adventskranz befüllt.
Wir bemühen uns hier auch redlich, es uns selbst weihnachtlich zu machen.  Aber wenn der Adventskranz aus Palmenblättern und Tomatenmarkdosen besteht, man die Plätzchen im Bikini grillt, den Adventskalender im Kühlschrank aufbewahren muss, damit er nicht zerschmilzt, und es mit Glühwein nur vor dem Ventilator aushält, kommt eben doch nur bedingt Stimmung auf...
Gestern haben wir unsere Lehrer zum Weihnachtsessen eingeladen, gab Flädle-Suppe, Semmelknödel und Gulasch, wofür wir vermutlich das beste Kompliment aller Zeiten bekommen haben: "I like this more than Fufu!".
Heute kommen dann die anderen Volunteers, die mit uns die Feiertage verbringen. Diese bestehen hier in erster Linie aus Gottesdiensten und der Schlachtung eines Schweins. Um Silvester rum gibt es wohl noch ein paar ganz lustige Feste im Dorf und wir wollen alle gemeinsam ein großes Buffet in unserem endlich fertig renovierten Häuschen zubereiten. Irgendwann zwischen den Jahren ist noch eine Zweitagesradtour geplant. Einen Schlafplatz und etwas zu Essen hält Ghana bestimmt für uns bereit.
Ich wünsche euch zu Weihnachten Gelassenheit, Freude und Menschen, die ihr liebt, um euch. Und wenn etwas nicht so läuft, wie geplant, dann denkt an die vielen kleinen Gesichter hier, die nicht einmal heile Schuhe zu Weihnachten bekommen können, und für die es das Größte ist, einmal Schweinefleisch zu essen.
Happy meinte neulich auf einmal aus tiefster Inbrunst zu mir "God bless you!". Ich weiß nicht genau, ob ich an Gott glauben soll oder nicht. Aber wenn es einen gibt, dann hoffe ich, dass er ein Auge auf all diese tollen Kinder wirft.

Frohe Weihnachten,
Eure Léonie