Dienstag, 24. September 2013

Aus der Ferne


Ihr Lieben,

Nun versuche ich mich also an meinen ersten Blogeintrag zu machen. Das ist gar nicht so einfach, aus verschiedenen Gründen. Zum Einen prasseln einfach so viele neue Eindrücke auf mich ein, dass ich erst einmal filtern muss, was davon für euch am Interessantesten, oder überhaupt in einem Blog darstellbar ist. Zum Anderen pendelt meine Stimmung ziemlich auf und ab, sodass ich in manchen Momenten einfach nur den nächsten Flug nachhause nehmen will. In diesen Augenblicken muss ich mich immer wieder bewusst daran erinnern, mir meine Neugierde und meine Offenheit zu bewahren und es zu wagen, mich lebendig in den Strom des ungewohnten Treibens zu stürzen.
Ich möchte versuchen, euch in erster Linie ein bisschen von meinen Eindrücken bezüglich des Landes generell zu erzählen. Persönliche Details schreibe ich euch aber gerne in privaten Mails.

Uns wurde immer wieder gesagt, dass wir zu richtigen Urteilen keine Befähigung und Berechtigung haben. Was das bedeutet, wird mir jetzt erst bewusst, da ich immer wieder strauchele, meine eigenen Wahrnehmungen anzweifele, und mich frage, was dazu führt, dass Eindrücke so unterschiedlich aufgenommen werden. Letztendlich hat wohl keiner Recht oder Unrecht. Man lernt nur an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Leute kennen, und jeder hat andere Charakterzüge, die ihn auch für verschiedene Dinge sensibilisieren. Das also vorweg.
Mir ist im Vorfeld oft zu Ohren gekommen, dass Ghanaer wahnsinnig "gastfreundlich, fröhlich und herzlich" seien. Hier angekommen finde ich das zum Teil bestätigt, teils sehe ich es aber auch anders. Es stimmt, dass man ganz schnell angesprochen wird, generell einfach unkomplizierter ins Gespräch kommt. Es kann schon vorkommen, dass man pro Tag zwanzig Mal "How are you", "What is your name" oder "Where are you going" zu hören bekommt. Bei diesen Floskeln bleibt es dann aber auch meistens, und dem durchschnittlichen Ghanaer scheint es tatsächlich 365 Tage lang im Jahr "fine" zu gehen. Tränen und schlechte Gefühle sollte man nicht zeigen, eine andere Freiwillige wurde daraufhin beispielsweise mit einem "control yourself" abgespeist. Ich schätze eine postive Einstellung, aber ich bin auch ein Mensch, dem Ehrlichkeit sehr wichtig ist, und dazu gehört für mich auch, einfach so zu sein, wie man ist.
Zum Anderen ist es für mich momentan noch sehr schwer, zu unterscheiden, ob jemand gastfreundlich oder einfach nur neugierig, beziehungsweise auf irgendeinen Vorteil bedacht ist. So sind die typischen drei Gesprächsverläufe bisher meist so gewesen, dass ich entweder jemanden mit nach Deutschland nehmen, heiraten oder  ihm Geld geben sollte. Das ist auf die Dauer ziemlich ermüdend. Auf der einen Seite will ich Kontakte in der hiesigen Kultur knüpfen, aber irgendwann möchte ich auch nicht mehr immer wieder die gleichen Phrasen hören und sagen, um dann schließlich zuzusehen, wie der andere gekränkt ist, weil ich ihm nicht meine Handynummer geben will oder endlich nachhause gehen möchte. Generell ist es auch oft schwierig, die richtigen Worte zu finden. Wie erklärst du auch schon jemandem, der einen guten Euro am Tag verdient, dass man selber nur ein Volunteer ist und das Geld in Deutschland nicht auf Bäumen wächst?
Wohin ich gehe, ich bin "Obroni", die Weiße. Und so erfahre ich auch zum ersten Mal, was für eine riesige Barriere einfach nur eine Hautfarbe darstellen kann. 
Wenn ich durch den Ort laufe, vergehen keine zwanzig Sekunden, ohne dass mir dieses Wort nachgerufen wird. Es ist unglaublich, aber selbst Einjährigen, die vielleicht gerade so gelernt haben, zu stehen, wurde dieses Wort scheinbar schon beigebracht.

So klingt das jetzt jedoch vielleicht alles sehr einseitig, denn ich habe durchaus auch schon viele positive Erlebnisse gemacht. So hat mich eine meiner Kolleginnen im Projekt zum Beispiel für Donnerstag zum Kochen eingeladen, verschiedene Nachbarsfamilien haben versucht, mir Twi beizubringen und Zuckerrohr und andere undefinierbare Dinge zum Probieren gegeben. Ich denke, ich muss den Leuten auch einfach selbst mehr Zeit und Raum geben, mich kennenzulernen, meine äußere Form des reichen weißen Mädchens mit persönlichen Geschichten, Charakterzügen und gemeinsamen Erfahrungen zu füllen.
Ich habe mich in der letzten Zeit oft gefragt, womit die Menschen hier ihren Tag verbringen, wenn sie nicht arbeiten, und habe mehr und mehr den Eindruck, dass sie oftmals einfach "nichts tun". Was durch unsere kulturelle Brille betrachtet erstmal negativ wirkt, scheint mir aber eigentlich eine relativ schlaue Sache. Dieses Bedürfnis ständig etwas zu erleben, das einen ablenkt und erzählenswert ist, scheint einfach nicht so vorhanden. Die Leute, die ich getroffen habe, wirkten relativ zufrieden damit, einfach zu kochen, zu putzen, beieinander zu sitzen und sich zu unterhalten. Ich finde es auch sehr schade, dass ich kein Twi spreche, denn es würde mich brennend interessieren, worüber sich die Leute so unterhalten. Diese Mentalität des "to rest" gefällt mir jedenfalls sehr gut. So wird auch mir immer wieder gesagt "i want you to rest", wenn ich länger eine Aufgabe ausgeführt habe und muss ich einmal früher gehen, ist das auch kein Problem. Wer Entschleunigung sucht, ist hier wirklich richtig. Wenn der Regen mit 120 Dezibel aufs Wellblechdach trommelt, wartet man eben solange, bis die Schüler einen wieder halbwegs verstehen können. Und die Reiselust vieler Freiwilliger wird leicht belustigt hingenommen. Generell werde ich hier oft belächelt. Auf der einen Seite fühle ich mich teilweise ausgelacht, als die "dumme Weiße, die nichts kapiert", auf der anderen Seite meinte meine Rektorin einmal zu mir, dass die Leute einfach lachen, weil sie fröhlich sind. Ich weiß nicht so Recht, was ich glauben soll. Und es ist ja nicht so, dass wir nicht umgekehrt auch oft den Kopf schütteln müssen, wenn wir auf komplett andere Logiken stoßen. Dann müssen wir uns auch immer wieder sagen, dass hier zum Beispiel unser typisch westliches Nutzenabwägen fremd ist. Bloß, dass wir intensiv auf diese kulturellen Unterschiede vorbereitet wurden, die Leute hier aber nicht.
Ich fühle mich hier ein bisschen, wie es mir oft im Physik-Unterricht ging: Vor ein System gestellt, dass so tief und komplex ist, und so unglaublich vielen verschiedenen Regeln gehorcht, dass es schlicht unmöglich scheint, es zu durschauen. Generell versuche ich jetzt aber nicht mehr, mich bei jeder Kleinigkeit perfekt anzupassen - man macht so oder so das Meiste "falsch", schlimm ist das aber nicht, und wenn ich ich selbst bleibe, fühle ich mich wenigstens in sicherer Haut. Das ist übrigens noch so ein Punkt, den ich wirklich gerne verinnerlichen würde. Dass viele Dinge einfach nicht so wichtig sind, und man nicht zwanghaft versuchen muss, alles zu verbessern und zu verändern. So habe ich schon mehrmals Leute zu ihrer Meinung nach etwas gefragt, und immer zur Antwort "I don't have a choice" bekommen. Das hat mich zunächst irritiert, da ich danach ja gar nicht gefragt hatte. Aber dann habe ich begonnen, mich selbst zu fragen, ob es überhaupt so einen großen Sinn hat, Sachen zu beurteilen, die man tatsächlich nicht ändern kann. Die Überlegung finde ich auf jeden Fall interessant, aber ich kenne mich auch selbst gut genug, und ich weiß, dass ich mir schon immer über alles meinen Kopf zerbrochen habe, und das wohl auch so bleiben wird. Und irgendwie macht es ja auch Spaß, aus seinen Gedankenscherben dann irgendetwas Schönes zu basteln.

Nun noch ein bisschen Etwas zu den "Äußerlichkeiten". Das Wetter hier ist erstaunlich angenehm, heute hat es das erste Mal so richtig geschifft, ansonsten ist die Temperatur meist genau richtig, durch Wolken und Wind. Ghana ist auch ziemlich grün. Wenn man den Blick leicht in die Ferne schweifen lässt, sieht man überall Wälder und Bäume. In Agona Swedru selber wiederum stehen nicht arg viele Pflanzen. Großteils besteht der Ort aus rotem Sand und Erde, auf der kreuz und quer verteilt kleine selbstgebastelt aussehende Häuschen aus groben und unverputzten Steinen stehen, dazwischen Wäscheleinen und Feuerstellen, vereinzelte Palmen und die abenteuerlichsten Wege über tiefe Löcher, Streinbrocken und modrige Abflusskanäle, die gerne am nächsten Tag plötzlich zugeschüttet und woanders wieder in den Boden gegraben werden. Zäune gibt es wenn überhaupt nur bei den etwas luxuriöseren Häusern, wo ein Grundstück anfängt oder endet, ist schwer zu sagen. In der Regel läuft man halt da lang, wo man hinmuss. Genauso läuft es im Verkehr. Rechts vor links gilt hier definitiv nicht, die Autos kommen mir ein bisschen vor wie Deutsche beim Schlussverkauf, jeder drängelt so lange, bis er dran ist. Um dieses Ziel auch allen klarzumachen, wird gehupt ohne Ende. Unfälle habe ich noch keinen Einzigen erlebt, aber ich habe das Gefühl, die Leute sind einfach achtsamer und kommunikativer, sie verlassen sich mehr auf sich selbst, als auf Regeln. Oder es liegt daran, dass durch das Drängeln der Verkehr einfach so langsam ist, dass die physikalische Wahrscheinlichkeit eines Crashs extrem sinkt...
Das Zentrum von Swedru ist dementsprechend jedenfalls sehr laut, für ungeübte Fußgänger ziemlich gefährlich, und schmutzig. Dicht an dicht pressen sich hier die überall in Ghana anzutreffenden kleinen Shops, meist Holzverschläge mit Fliegengitterüberzug. Verkauft wird eigentlich alles. Von über den Arm gelegten nicht mehr ganz taufrisch aussehenden Kopfhörern, über Bayern-Trikots bis zu handgroßen lebenden Schnecken. Besonders oft sieht man das typische Plastiktütenwasser (ist übrigens halb so wild, Ecke abbeißen und in den Rachen laufen lassen), und irgendwelche Teigtaschen, die zwar immer unterschiedlich aussehen, aber trotzdem immer gleich schmecken. Genauso wie alles verkauft wird, wird auch alles auf dem Kopf getragen. Und damit meine ich wirklich Alles! Ich habe schon Frauen mit kleinen Badewannen voll Wasser,  Bretterstapeln oder auch einem schlichten Jim Beam auf dem Kopf gesehen.
Was leider ein wirkliches Problem hier zu sein scheint, ist die Müllentsorgung. Jahrhunderte lang haben die Leute biologisch abbaubare Verpackungen aus Blättern genutzt. Dann kamen im Zuge der Kolonialisierung nach und nach andere Materialien und schließlich Plastik ins Land und überfluteten es. Es ist verbreitet, Dinge, die man nicht mehr braucht, einfach unter sich fallen zu lassen. Mülleimer in der Öffentlichkeit wird man vergeblich suchen, ich habe auch hier zuhause noch keinen entdeckt und die einzige Müllabfuhr, die ich bisher gesehen habe, war ein klappriges Fahrrad, das den Müll zu einem anderen Ort mit noch mehr Müll fährt, wo er dann stinkend verbrannt wird. Auch an manchen Stränden findet man bergeweise Abfall, der vom Meer aus an Land gespült wird, großteils auch aus Europa. Persönlich stopfe ich momentan meinen Rucksack immer so lange mit Müll zu, bis er halt fast platzt, um dann wiederum alles in irgendeinen überfüllten Mülleimer, den ich in einem Laden oder der Schule finde, zu stopfen. Ich habe mich aber auch schon ertappt, wie ich zum Beispiel eine Wassertüte in irgendeinen Abwasserkanal fallen lassen habe. Das ist wirklich frustrierend. Ich überdenke jedenfalls inzwischen dreimal, was ich kaufe, und Einkaufstüten lehne ich prinzipiell ab. Ich kann euch nur den Anstoß geben, einmal zu überlegen, wie viel Müll ihr eigentlich selbst so produziert, und was damit dann passiert. Denn nichts verschwindet einfach so von alleine, auch wenn man das bei uns gerne glauben mag.

Alles in allem fällt es mir schwer, ein Resumee zu formulieren. Ich kann eigentlich zu diesem Zeitpunkt nur feststellen, dass mein Kopf wachsam und mein Herz weit geöffnet ist, empfänglich für all die neuen Erfahrungen, aber auch verletzlich.
Und so habe ich wieder angefangen, zu schreiben. So merke ich nach langer Zeit wieder, was mich eigentlich ausmacht. Ich distanziere mich von mir selbst und finde gleichzeitig zu mir zurück. Erkenne, welche Werte mir wirklich wichtig sind, denn in der Fremde werden bislang nur schwer nachzuvollziehende Floskeln realer und bedeutender. Dinge wie Toleranz und Rücksichtsnahme, aber auch einfach die Familie. Und das ist vielleicht die Aussage, die ich am eindeutigsten und vor allem am persönlichsten in diesem Blog treffen kann. Es gibt nichts Schöneres und Wertvolleres als eine hinter dir stehende und dich liebende Familie, zu der du unter allen Umständen und jederzeit zurückkehren kannst.
Jedenfalls versuche ich weiterhin das Beste aus Allem zu machen, auch wenn ich euch alle tierisch vermisse. Über Mails von euch freue ich mich jedenfalls sehr, und sie geben mir immer Kraft, wenn es mir mal nicht so gut geht.

Ganz viel Liebe,
Eure Ama Leo
(Das hat Ghana mir genommen, mein "Nie", aber ich habe ein "Ama" bekommen, ist doch auch schön.)

PS: Sämtliche Rechtschreib- und Kommafehler seien mir bitte verziehen.

Dienstag, 10. September 2013

Es beginnt

Hallo meine Lieben,

Nun existiert er also, mein versprochener Blog. Da ich im Moment ein bisschen im Packstress bin und außerdem himmelhochjauchzendzutodetrübt meine Liebsten verabschieden muss, wird der erste Eintrag eher mickrig ausfallen. Was habe ich jetzt auch schon groß zu erzählen, außer vielleicht von vielen bunten Bildern in meinem Kopf, ein paar Ängsten und manchen nicht zu vermeidenden Erwartungen. In Kürze werde ich dann hoffentlich wissen, wie viele Mitglieder meine neue Familie hat, in welchem Örtchen oder Dörflein ich ein Jahr leben werde und ob ich ab und zu mal an Internet herankomme. Wenn ja - dann hört ihr von mir. Bis dahin haltet die Ohren steif, denkt ab und zu, aber nicht zu oft, an mich und geht wählen ;-) (ich hoffe stark, mein Plan, dies in der deutschen Botschaft zu tun, ist nicht zum Scheitern verurteilt.) 

Eure Léonie

PS: Da ich denke, es ist durchaus gut, sich ein bisschen kritisch mit der Weltwärtssache und Dingen im Allgemeinen auseinanderzusetzen, poste ich hier noch zwei Links, die ich ganz interessant finde.

http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/24384/ 
Dieser setzt sich mit der Sinnhaftigkeit hinter dem Weltwärtsprogramm an sich auseinander. Ich bin logischerweise nicht in allen Punkten einer Meinung, kann den Standpunkt aber durchaus nachvollziehen. Aber wie immer - ein Zimmer sieht auch nicht aus jeder Ecke gleich aus.

http://www.glokal.org/publikationen/mit-kolonialen-gruessen/
Geht um die Art und Weise der Berichterstattung im Ausland, die ungewollt und auch ungemerkt rassistisch, verharmlosend oder irreführend wirken kann. Lest es euch durch und macht mich darauf aufmerksam, wenn ich zB. in Klischees abdrifte.